Das Alte Testament kennt zwei klar definierte Arten von Unreinheit.
Diese Unterscheidungen sind grundlegend für jegliches Verständnis von Reinheit und Unreinheit in der Bibel und Grundlage jeder Diskussion über die Unterscheidung von rein/unrein.
Die eine Art von Unreinheit ist permanent (bleibend), nicht rituell, nicht kultisch und nicht zeremoniell im Wesen und Zweck; die andere Art ist eindeutig rituell, kultisch und zeremoniell im Wesen und Zweck und in der Gestaltung. Die Annahme, dass alles Material im 3. Buch Mose zeremonieller Natur sei, kann kaum aufrechterhalten werden.
Das 3. Buch Mose enthält beides: zeremonielle/rituelle und moralisch-universelle Gesetze!
Aufgrund des gesamten biblischen Zeugnisses muss als erstes angenommen werden, dass es eine generelle Reinheit gibt, die allen Menschen, den meisten Tieren und allen Dingen eigen ist.
Unter gewissen Umständen kann das, was an sich rein ist, Unreinheit annehmen und so unrein werden. Die erworbene Unreinheit entsteht durch Kontakte mit Leichnamen
(3.Mo.11,29-40; Mo.19,11-17), körperliche Ausflüsse (3.Mo.15,2-28) und menschliche Hautkrankheiten, gewöhnlich als Aussatz bezeichnet usw. (3.Mo.13,1-59. 14,1-56).
Diese erworbene Unreinheit ist kultisch oder zeremoniellen Art in dem Sinne, dass sie einer Sache anhaftet, die vorher rein war; sie macht das, was rein war, unrein. Die so erworbene Unreinheit erfordert deshalb eine Beseitigung durch eine gewisse rituelle Vorschrift, die von Gott bestimmt wurde. Im Fall von Aussatz gab es ein wohldurchdachtes Reinigungsritual, das Waschen und/oder Baden und Opferdarbringungen einschloss (3.Mo.14,1-32). Im Fall erworbener Unreinheit, die durch Berührung eines Leichnams entstand, gab es das Waschen der Kleider und das Warten bis zum Abend (3.Mo.11,24-28, 38-39). Die erworbene Unreinheit durch Berührung eines Leichnams dauerte sieben Tage (4.Mo.19,11). Um von dieser erworbenen Unreinheit rein zu werden, musste sich die befleckte oder unreine Person mit der Asche einer besonders zubereiteten roten Kuh und mit fließendem Wasser aus einem Gefäß reinigen (4. Mo.19,1-19).
Die andere Art von Unreinheit, die nicht erworben und deshalb nicht rituell oder zeremoniell ist, ist nur bestimmten Tieren eigen oder ist ererbt. Diese Tierarten werden in der Bibel "unrein" genannt.
Die unreinen Tiere in 3. Mo 11,2-23 sind nicht unrein wegen einer erworbenen/anhaftenden Unreinheit. Sie sind nicht durch den Kontakt mit etwas Unreinem unrein geworden, so wie es für die erworbene Unreinheit kennzeichnend ist, die im Wesen zeremonieller Natur ist. Sie sind als solche unrein. Sie werden von Gott als "unrein" (tame') und/oder "verabscheuenswert" (sheqets) erklärt.
Die durch Gott festgelegte und erklärte Unreinheit spielt nur hinsichtlich der Tiere eine Rolle, die als Speise inakzeptabel sind, sonst aber in keiner Weise.
Es gibt keine Möglichkeit, angeborene und nichterworbene Unreinheit durch Kochen, Waschen, Opfer, Beachten von Zeitspannen oder durch sonstige Aspekte zu beseitigen. Weder eine dieser Handlungen noch eine Kombination derselben machen ein unreines Tier rein. Dies macht deutlich, dass die Unreinheit unreiner Tiere anderen Ursprungs ist und einem anderen Zweck dient im Vergleich zu dem, was im Zeremonialgesetz kultisch und rituell unrein ist.
Nochmal: Die rituelle und kultische Unreinheit wird durch jemand oder etwas erworben, der/das vorher nicht unrein war und bedarf deshalb einer gewissen angemessenen rituellen/kultischen Handlung, um den vorherigen reinen Status wiederzuerlangen. Im Gegensatz dazu ist angeborene oder ererbte Unreinheit permanent und nicht zu beseitigen. Sie bedarf keiner zeremoniellen, reinigenden Handlung; falls eine solche durchgeführt würde, würde diese den Status der unreinen Tiere nicht verändern. Unreine Tiere sind unrein und bleiben unrein. Die Unreinheit der Tiere, in Bezug auf deren Verzehr, ist die Ordnung göttlicher Zuweisung.
Die ererbte Unreinheit in lebenden Tieren kann nicht auf jene übertragen werden, die mit unreinen Tieren in Kontakt kommen. Die Nichtübertragbarkeit der ererbten Unreinheit macht deutlich, dass diese Unreinheit von anderer Natur ist als die zeremonielle, rituelle und kultische Unreinheit, die übertragbar ist.
In Israel verursachte nur der Kadaver toter Tiere, ganz gleich, ob rein oder unrein, Unreinheit bei einem Kontakt; aber kein lebendes Tier, ob rein oder unrein, verursacht Unreinheit bei Menschen.
Auf der Grundlage dieser Erkenntnis können wir festhalten, dass die angeborene und ererbte oder festgelegte und erklärte Unreinheit sowohl anderen Ursprungs ist als auch eine andere Natur besitzt und einen anderen Zweck verfolgt als die erworbene, rituelle, zeremonielle Unreinheit.
Beide sind von ihrem Ursprung, von ihrem Zweck und ihrer Art her radikal verschieden. Sie können nicht gleichgesetzt werden. Jede hat ihre eigene Bestimmung und ihre Bedeutung. Jede von ihnen hat eine andere Funktion.
Die Unreinheit der unreinen Tiere ist nicht ansteckend und deshalb von anderer Art als vergleichsweise die Unreinheit, die erworben ist und Personen oder Dingen anhaftet.
Die Annahme, dass alle Dinge hinsichtlich rein/unrein unbedingt kultisch oder zeremoniell sind, nur weil sie in einem Buch, in einem Abschnitt eines Buches oder in der Nähe kultischer Dinge angesiedelt sind, scheint vollkommen unhaltbar, wenn man, die kompositionelle Technik versteht, die der Autor anwendet
Das Thema von Tieren, "die in sich selbst unrein sind", d. h. die von Geburt oder erblich unrein sind und als "verabscheuenswert" und nicht zum Essen freigegeben erklärt wurden, als auch jene, die rein und zum Essen freigegeben sind, wird an den Anfang des ganzen Abschnittes von 3.Mo.11-15 gesetzt.
Nachdem dieses Thema in 3. Mo 11 abgehandelt worden ist, geht der Autor zum Thema der erworbenen rituellen Unreinheit und den kultischen Ritualen zur Beseitigung dieser erworbenen Unreinheit oder Unreinigkeit in den anderen Teilen von 3.Mo.12-15 über. Auf diese Weise bewegt sich der Autor vom Thema der generell nicht-kultischen Angelegenheit der angeborenen Unreinheit von Tieren, die nicht zum Essen freigegeben sind; d. h. von der nicht-erworbenen Unreinheit zu einem umfassenderen kultischen Thema der erworbenen Unreinheit, die ritueller und zeremonieller Natur ist. Der kompositionelle Übergang von einer generellen, kurzen Behandlung von reinen/unreinen Tieren zu einer spezifischen und erweiterten Behandlung ritueller, zeremonieller Unreinheit findet sich auch in anderen Teilen des Pentateuch wieder. Solche kompositionellen Übergänge vom Generellen zum Spezifischen treten auch in anderen Teilen des Pentateuch zutage.
Die Verwendung der (hebräischen) Wurzel shqts bei den Tieren in den Versen 9-23 (in 3.Mo.11) sich nur auf ihre verabscheuenswerte Natur hinsichtlich des Verzehrs derselben bezieht und nicht auf die Möglichkeit, sich durch ihre Berührung zu verunreinigen."
Die Verwendung des hebräischen Verbs sheqets weist außerdem auf das Schwerwiegende der Verabscheuungswürdigkeit unreiner Tiere hin. Dasselbe Verb wird für ein geschnitztes Götzenbild benutzt, das verabscheuenswert ist (5.Mo.7,25-26).
Dieser Zusammenhang ist geeignet aufzuzeigen, wie ernst das unreine/verabscheuungswürdige Tier betrachtet werden muss, wenn es um seinen Verzehr als Speise geht. Es ist das gleiche, als hätte man eine Teilhabe an einem Götzen oder nähme einen Götzen in sich auf.
Die Zusammenfassung in 3.Mo.20,25 sagt, dass sich eine Person durch Verzehr eines unreinen Tieres "unrein" macht.
Für gewisse Gesetze gilt eine universale Anwendung; sie stehen außerhalb des begrenzten Anwendungsbereiches des zeremoniellen, rituellen, kultischen Gesetzes. Diese Gesetze sind universaler Natur.
Die nicht-zeremoniellen und universellen Gesetze in 3.Mo.18 gelten für Israeliten und "Fremdlinge" (gerîm). Diese Gesetze enthalten die Gesetze für verbotene Ehen (3.Mo.18,6-17), Sünden der Unkeuschheit (3.Mo.18,18-21), Homosexualität (3.Mo.18,22) und Sodomie (3.Mo.18,23).
Das diese Gesetze universeller Natur sind, wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass die heidnischen Völker, die sich an diesen Greueln beteiligten, vertrieben werden sollten (3.Mo.18,24), so dass "das Land seine Bewohner ausspie" (Vers 25). Vers 26 faßt zusammen, "Weder der Einheimische, noch der Fremdling unter euch" soll eins dieser "Greuel" (tô' ebôth) tun. Es ist besonders bemerkenswert, dass die unreinen Tiere ein Teil der "Greuel"sind bzw. zu den Greueln gehören und in der einleitenden Erklärung (Vers 3) des Speisegesetzes in 5.Mo.14,3-21 tatsächlich als "Greuel" (tô' ebôth bezeichnet werden. Das Wort "Greuel' (tô' ebôth) hat mehrere Bedeutungsschattierungen, doch grundsätzlich bedeutet es irgendetwas, dass durch sein Wesen als etwas ausgewiesen wird, das dem entgegensteht, was vor Gott als annehmbar und/oder erlaubt gilt.
Offensichtlich stellt das Wort "Greuel" ein linguistisches und terminologisches Argument dar, das außerdem veranschaulicht, dass das Speisegesetz in Bezug auf reine und unreine Tiere ein universelles und kein zeremonielles Gesetz ist. Genauso wie die heidnischen "Völker", die sich den "Greueln" (tô' ebôth) hingaben, die in den universellen Gesetzen verboten sind, die Konsequenzen für solches Handeln durch ausgiebige Gerichte zu erleiden hatten, so gibt sich der Mensch, der unreine Tiere isst, den "Greueln" (5.Mo.14,3; tô' ebôth) eines anderen universalen Gesetzes hin, das für die gesamte Menschheit gültig ist.
Das Jagdgesetz in 3.Mo.17,13-14 scheint in Form und Anwendung zum universalen Gesetz zu gehören, weil es für die Israeliten und für die "Fremdlinge" (gerîm) gilt. In diesem Gesetz wird ein Unterschied gemacht, ob es "ein Tier oder ein Vogel ist, den man essen darf" (Vers 13). Die Folgerung ist, das es Tiere und Vögel gibt, die man nicht essen darf, da sie unrein sind. Die Unterscheidung zwischen rein und unrein gilt hier für gejagtes Wild. Diese Unterscheidung gilt für Israeliten und "Fremdlinge". Da beide, Israeliten und Nicht-Israeliten, hier genannt werden, scheint dies anzuzeigen, dass die Unterscheidung von Tieren, die gegessen werden dürfen und jenen, die nicht gegessen werden dürfen, universell gültig ist und nicht alle in auf die Israeliten (oder Juden) beschränkt werden kann.
Für unsere Diskussion ist es wesentlich, dass die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren bekannt war, bevor die Israeliten existierten. Deshalb kann behauptet werden, dass die Unterscheidung von reinen/unreinen Tieren generell für die Menschheit gilt.
Sie gilt uneingeschränkt in Bezug auf Anwendungsbereich und Bestimmung und liegt außerhalb des Rahmens der zeremoniellen Gesetzgebung für das alte Israel in späterer Zeit.
Q.: Auszüge entnommen aus: Gerhard F. Hasel: Ist die Unterscheidung von reinen und unreinen Tieren in 3. Mose 11 noch relevant?