Lieber Jurek,
auch in dieser Beurteilung muß ich Dir im Großen und Ganzen zustimmen. ich befinde mich in einer ähnlichen Situation und die Ältesten und auch die WTG wissen, daß ich in manchen Lehrpunkten anderer Ansicht bin. Ich halte mich zwar zurück, wenn es um meinerseits andere Meinungen geht und äußere mich in der Versammlung dazu nicht, aber trotzdem geht so ein "Riß" durch die Versammlung. Einige - und das besonders innerhalb der Familie - die mich meiden und eine "höfliche Distanz" aufbauen. Aus anderen Foren wird berichtet, wie gewisse Brüder sogar die Straßenseite wechseln... Es werden Gespräche vermieden, wo es vielleicht wie befürchtet zu Diskussionen kommen und eine vom Wachtturm abweichende Meinung kundtun könnte. Allenfalls "Wie gehts?", wobei man dann sich eigentlich schon wieder ab- und anderen zuwendet und nicht wirklich wissen will, wie es einem geht, es könnte ja eine Diskussion entstehen.
Und wenn man mich dann mit einlädt, weil es ja manchmal wegen meiner Frau nicht zu vermeiden ist, merke ich immer wieder wie man systematisch versucht, mich möglichst nicht mit meinen Ansichten zu Wort kommen zu lassen, seien es angebliche "Verschwörungstheorien" oder seien es vom Sklaven abweichende Meinungen. Da wird das volle Register gezogen, um auf andere Themen zu kommen, den Sklaven loben, das Werk loben, all die tollen Erfahrungen und ich spüre sofort: Alles nur zu dem Zweck, ja nicht das Thema auf was anderes kommen lassen.
Derjenige, der mit mir studiert hat, als ich Zeuge Jehovas geworden bin, trifft mich selten, weil in eine andere Versammlung gezogen. Aber bei seltenen Gelegenheiten, wie Beerdigungen von bekannten Brüdern/Freunden, kommt er zwar spontan auf mich zu und schmeichelt mir, wie gut ich doch noch aussähe, wendet sich dann aber gleich wieder ab und anderen zu. Bloß keine vom Sklaven abweichende Meinung, die kognitive Dissonanz beginnt zu wirken, das Gemeinschafts-"Wohlgefühl" wäre dahin. Nebenbei äußerte er sich auch in diesem Sinne "...ich will mich nicht aufregen....", denn er hat über Umwege sicher Kenntnis von meinem jetzigen Stand erhalten. Bei ihm konnte ich sowieso von Anfang an nicht unterscheiden zwischen von Herzen kommender Freundlichkeit und Zweck-Schmeichelei. Ich neige letzte Zeit mehr zum Letzteren. Das ist ja auch m.E. ein ganz wesentlicher Punkt bei diesem Studium mit Zeugen Jehovas, wo man Leute "fischen" will. Es spielt dieses Element eine große Rolle, mehr noch als die Erkenntnis, die man dort gewinnt. Das sind ja so nette und freundliche Menschen.....Und wenn die dann auf einen Menschen stoßen, der sowie soziale Probleme hat, aus welchen Gründen auch immer, und dieser dann plötzlich solch eine Zuwendung erfährt ("Lovebombing"), dann "hängt der am Haken".
Ja, Du darfst eine andere Meinung haben, aber behalte die gefälligst zurück und bei Dir! Und dann kommt es noch auf die jeweilige Ältestenschaft an, in wieweit sie solche abweichenden Meinungen tolerieren kann und hart durchgreift. Wenn Du Pech hast, gerätst Du an solche Hartliner und dann bist du "draußen" und dann geht der Riß durch die Familie.
Gruß
vom Schrat